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Erfolgreiche Leseförderungsmaßnahme der Oberschule Nienburg – Gesteigerte Leseflüssigkeit durch den Einsatz von Lautlesetandems

Mithilfe von Lautlesetandems führt die Oberschule Nienburg unter der Federführung der Lehrerin Christina Salem in drei Jahrgängen eine Leseförderungsmaßnahme durch, die im ersten Durchgang beeindruckende Ergebnisse erzielte: 98% der beteiligten Schüler:innen verbesserten nachweislich innerhalb von zehn Wochen ihre Leseflüssigkeit, in vielen Fällen deutlich.

Die Oberschule Nienburg wird derzeit von über 500 Schüler:innen besucht, etwa zwei Drittel von ihnen sind Nichtmuttersprachler:innen. Eine Herausforderung, die sich durch die gesamte Schülerschaft zieht, ist die ausgesprochen schwache Lesekompetenz. Diese Erkenntnis bewog die Schulleitung dazu, Leseförderung zu einem Arbeitsschwerpunkt der Schule zu machen. Sie richtete eine Funktionsstelle ein, um die Schüler:innen, unabhängig davon, ob sie Deutsch als Erst- oder Zweitsprache lernen, in diesem Bereich gezielter und systematisch unterstützen zu können. Die Position übernahm Frau Salem, die sich für das Implementieren von Lautlesetandems als Instrument entschied. Diese Methode setzt bei den basalen Kompetenzen an und trainiert die Leseflüssigkeit.

Durchführung der Lautlesetandems

Die Lautlesetandems wurden in den Jahrgangsstufen 5-7 eingesetzt, sodass insgesamt 220 Schüler:innen an der Leseförderungsmaßnahme teilnahmen. Zwischen den Herbst- und Winterferien gab es für die Klassen zehn Wochen lang drei Mal wöchentlich für 20 Minuten den Arbeitsauftrag, gemeinsam in Lautlesetandems eine vorgegebene Lektüre zu lesen. Die Paarungen der Tandems blieben hierbei über die gesamte Zeit unverändert bestehen, da sich die Teams aus jeweils einem/einer schwächeren und einem/einer stärkeren Leser:in zusammensetzten, die einander anhand ihrer Lese-Fehlerquotienten zugeteilt worden waren. In den teilnehmenden Klassen gab es einen Aushang, in dem alle stattgefundenen Tandem-Termine vermerkt wurden. Auch eine Liste der Paarungen hing aus, auf der die Schüler:innen bei Abwesenheiten nachsehen konnten, welcher/welche Mitschüler:in der/die am nächstbesten geeignete Lesesportler:in oder Lesetrainer:in für sie war. So wurde teilweise auch in Dreierteams, bestehend aus zwei Lesesportler:innen und einem/einer Trainer:in, gelesen.

Zwei Mal in der Woche führte die Deutschlehrkraft der jeweiligen Klasse die Lautlesetandems zu Beginn der Deutschstunde durch, die dritte Phase übernahm die Klassenlehrkraft zum Start der Verfügungs- oder Lions-Quest-Stunde. Frau Salem berichtet: „Es hat maximal 2 Wochen gedauert, bis die Schüler:innen die Methode internalisiert hatten, das hat super funktioniert.“ Auch unter der Aufsicht von fachfremden Vertretungslehrkräften, die zuvor nie an der Maßnahme beteiligt gewesen waren, setzten die Schüler:innen die Lesetandems von allein um. Waren die 20 Minuten Lesezeit abgelaufen, markierten die Teams in ihrem Buch mit Klebezetteln, bis zu welcher Stelle sie gekommen waren.

Die Lektüre

Als Lektüre wählte Frau Salem Bücher, die Anschlusskommunikation und -tätigkeiten ermöglichten. Auch wenn das Gelesene im Unterricht nicht thematisiert wurde, sollten die Schüler:innen dazu angeregt werden, sich im Nachhinein damit zu beschäftigen und darüber zu diskutieren. In einigen Klassen konnte tatsächlich ein nachträglicher eigenständiger Austausch über die Lektüre beobachtet werden.

In Jahrgang 5 lasen die Kinder ein Buch der „Die drei ??? Kids“-Reihe mit Bildern und relativ großer Schrift. Einen Buchtitel aus einer umfangreichen Reihe zu wählen, hatte das Ziel, die Schüler:innen nach dem ersten geweckten Interesse gleich zum Weiterlesen der anderen Titel zu motivieren. Außerdem beinhaltete die Lektüre einige Rätsel, die über die Lesezeit hinaus Ansatzpunkte boten, sich mit dem Gelesenen auseinanderzusetzen. Auch in den 6. Klassen entschied sich Frau Salem mit einem Buch der Reihe „Beast Quest“ für Lesestoff mit Potential für weitere Lesestunden in der Freizeit. „Die Reihe ist sehr ansprechend gestaltet. Die nächsten 30 Bände haben wir zum Ausleihen in der Schulbibliothek stehen“, erläutert sie. Für die Jahrgangsstufe 7 musste die Lektüre weniger kindlich und etwas „cooler“ sein, um die Schüler:innen abzuholen. Deshalb wurde hier „Es kommt“ von Oliver Uschmann und Sylvia Witt aus der „super lesbar“-Reihe gewählt. Die Anschaffung der Bücher wurde über einen Sonderfonds finanziert.

Zwei Schüler:innen teilten sich jeweils ein Buch. Die Lektüre stand während der gesamten Durchführungszeit in den Klassenräumen zur Verfügung.

Durchführung der Lautleseprotokolle und Auswertung

Um auswerten zu können, ob die Maßnahme sich tatsächlich positiv auf die Leseflüssigkeit der Schüler:innen auswirkte, plante Frau Salem vor und nach dem Durchführungszeitraum jeweils eine Testung mit Lautleseprotokollen ein. Die langfristige Wirkung der Fördermaßnahme wird mit einer weiteren Testung in den teilnehmenden Jahrgängen am Ende des Schuljahres ermittelt.

Die Lautleseprotokolle, die zum Erfassen der Ausgangssituation und zur Auswertung genutzt wurden, entstanden in 1:1 Situationen. Alle beteiligten Schüler:innen lasen der auswertenden Lehrkraft jeweils eine Minute aus dem gleichen Text vor. Diese markierte im Text Stockungen und Fehler und hielt im Anschluss die Anzahl der Fehler, der korrekt gelesenen Wörter pro Minute sowie den Fehlerquotienten fest. Zur Auswertung lag den Lehrkräften der Text mit Markierungen der Wörteranzahl vor, was den Prozess vereinfachte. Um die Ergebnisse durch methodische Abweichungen nicht zu verfälschen und für kontrollierte Abläufe zu sorgen, wurden alle auswertenden Lehrkräfte von Frau Salem geschult und führten die Protokolle bei den ersten vier Schüler:innen mit ihrer Kollegin gemeinsam durch. Die Schüler:innen erschienen in alphabetischer Reihenfolge zu den Lautleseprotokollen, wobei der/die nächste Schüler:in immer bereits vor der Tür auf seinen/ihren Einsatz wartete. Waren die Schüler:innen fertig, gaben sie dem/der übernächsten Bescheid, damit nicht zu viel Unterrichtszeit verloren ging.

Frau Salem übertrug dann die Ergebnisse der Prä- und Posttestung in eine Excel-Tabelle, wertete hiermit den Erfolg der Leseförderungsmaßnahme aus und ermittelte den Fortschritt der einzelnen Schüler:innen.

Unterweisung des Kollegiums und Einführung der Methode

Zur Vorbereitung der gesamten Maßnahme stellte Frau Salem ihren Kolleg:innen den Ablauf mit einer Präsentation vor und gab ihnen in einer Online-Fragestunde die Möglichkeit, Unklarheiten zu beseitigen. Besonders wichtig war hierbei, den Kolleg:innen zu vermitteln, dass keinerlei Anpassungen an der Methode vorgenommen werden durften, damit sie ihren Zweck erfüllt. Weder eine Veränderung der Teams noch der Auswertung des Lautleseprotokolls war zulässig. „Dadurch wirkt das Verfahren unter Umständen etwas starr, es führt aber kein Weg an dieser Weise der Durchführung vorbei“, betont Frau Salem. Generell standen aber alle Kolleg:innen von Anfang an hinter dem Projekt und mussten nicht erst überzeugt werden.

Die Lehrkräfte erklärten ihren Schüler:innen die Regeln und den Ablauf der Lautlesetandems mithilfe eines Videos, das zwei Mal angesehen und gemeinsam besprochen wurde. Das Konzept der Zusammenarbeit von Lese-Sportler:in und Lese-Trainer:in wurde den Schüler:innen dargelegt.

In Jahrgang 5 fand darüber hinaus zum Start der Leseförderung ein Sichtwortschatztraining mit einer Tabelle statt.

Ergebnisse und Erfolge

„Es haben sich sehr viele schöne Sachen ergeben“, so Frau Salem. Am Ende der Leseförderungsmaßnahme konnte bei einem Großteil der Schüler:innen (98%) eine Verbesserung der Leseflüssigkeit festgestellt werden. In vielen Fällen kam es sogar zu signifikanten Fortschritten, so erreichte ein Schüler bei der Posttestung einen Fehlerquotienten, der sich um 2000% von dem in der Prätestung unterschied.

Um die positiven Ergebnisse zu honorieren, erhielten alle Teilnehmenden nach der Auswertung eine Urkunde, auf der ihre Verbesserung festgehalten war (entweder die Steigerung der Wortanzahl oder der neue Fehlerquotient). Zwei Schüler:innen pro Jahrgang bekamen eine Siegerurkunde inklusive eines vom Förderverein gesponserten Büchergutscheins überreicht: Sowohl die Teilnehmenden mit dem besten Fehlerquotienten ihres Jahrgang als auch die Schüler:innen mit der größten persönlichen Verbesserung wurden auf diese Weise ausgezeichnet. Die Klassenlehrkräfte vergaben die Urkunden in einer kleinen Zeremonie. Auf diese Weise wurde den Teilnehmenden vor Augen geführt, dass sie eine tolle Leistung erbracht haben und sich ihre Arbeit erwiesenermaßen gelohnt hat. Alle nahmen ihre Auszeichnung mit großem Stolz entgegen. Frau Salem machte folgende Beobachtung: „Ganz viele haben die Urkunden hinter ihre iPad-Hüllen geklebt, sodass sie sie immer sehen können.“ Auf den Erfolg ihrer Sportler:innen waren die Trainer:innen mindestens genauso stolz wie auf den eigenen: „Es hieß dann immer: Das war mein Sportler, ich war sein Trainer!“

Insgesamt wirkte sich das Projekt nicht bloß positiv auf die Leseflüssigkeit der Beteiligten aus, sondern auch auf deren Selbstbewusstsein und Lesemotivation. Seit der Maßnahme treten viele Schüler:innen viel souveräner beim Vorlesen auf, melden sich öfter freiwillig dafür und haben weniger Angst, dabei von den Mitschüler:innen laut korrigiert oder anderweitig unterbrochen zu werden. Durch die Lautlesetandems hat es sich in den teilnehmenden Klassen etabliert, dass nur der/die Trainer:in des/der Vorlesenden ihn/sie verbessert und alle anderen geduldig zuhören. Das Wissen, von dem/der Trainer:in unterstützt zu werden, schenkt den Schüler:innen zusätzlich Sicherheit. Darüber hinaus ist das Verständnis für etwas langsamere Leser:innen in den Klassen gestiegen. Das Verfahren hatte also obendrein einen Effekt auf das Sozialverhalten der Schüler:innen. Teilweise kam es sogar vor, dass Schüler:innen, die sich das Vorlesen früher selten zugetraut hatten, für ihren neu gefassten Mut, laut vorzulesen, von ihren Mitschüler:innen mit Applaus belohnt wurden. Die gesteigerte Lesemotivation ließ sich daran erkennen, dass einige Schüler:innen nach dem Projekt auf einmal gerne Zeit in der Schulbibliothek verbrachten, um weiterzulesen.

Von diesen Entwicklungen in den Klassen profitierten natürlich auch die am Projekt beteiligten Lehrkräfte in ihrem Unterricht. Die genaue Auswertung führte dazu, dass sie den Fortschritt ihrer Schüler:innen miterleben konnten und den Nutzen der Lesetandems bestätigt sahen: „Es war fürs Kollegium wichtig zu erfahren, dass die aufwendige Maßnahme wirklich etwas gebracht hat.“ In einer Umfrage, die Frau Salem im Anschluss an den Durchführungszeitraum an ihre Kolleg:innen richtete, bekam sie überwiegend positives Feedback. Was ihr gefällt: „Ganz viele Klassenlehrkräfte behalten jetzt eine kurze Lesezeit zu Beginn ihres Unterrichts bei, weil es ein wunderbarer Start in die Stunde ist.“ Für die Jahrgänge 5 und 6 wurden die 10-wöchigen Lautlesetandems nun fest ins Curriculum der Oberschule Nienburg integriert.

Herausforderungen und (unberechtigte) Zweifel

Als Zweifel an den Lautlesetandems wird häufig geäußert, dass sie zu zeitaufwendig seien und sich aufgrund der Lautstärke, die beim gleichzeitigen Lesen in der Gruppe entsteht, nicht so einfach umsetzen ließen. Die Befürchtung, durch die Tandems gehe zu viel Unterrichtszeit verloren, bestätigte sich an der Oberschule Nienburg nicht. Auf der Fachkonferenz Deutsch war zwar vorsichtshalber beschlossen worden, eine der zwei geplanten Klassenarbeiten im ersten Halbjahr notfalls durch eine fachspezifische Leistung zu ersetzen, diese Anpassung musste am Ende aber nicht vorgenommen werden. Die beteiligten Kolleg:innen nahmen das Projekt und die Lesezeit am Anfang der Stunden nicht als Belastung, sondern Bereicherung wahr. Das 20-minütige Ritual zu Beginn des Deutschunterrichts sowie der damit einhergehende Methodenwechsel taten den Schüler:innen gut, weshalb die eigentlichen Unterrichtsziele trotzdem erreicht wurden. Dass die Lesetandems einen gewissen Laustärkepegel mit sich bringen, lässt sich nicht leugnen. Weil das Verteilen der Schüler:innen in verschiedene Räume aus logistischen Gründen nicht möglich war und das Arbeiten im Schulflur zu weitaus mehr Ablenkung geführt hätte, lasen fast alle Teams im gleichen Raum. Nur ein Schüler, der sehr leise vorlas, durfte sich mit seinem Trainer im Flur aufhalten, um den Nutzen der Methode auch bei ihm zu gewährleisten. Generell war die Lautstärke der Tandems jedoch kein Problem. „Wenn die Methode bei den Schüler:innen richtig angekommen ist, sind alle so fokussiert auf ihren Text, dass sich niemand gestört fühlt“, erklärt Frau Salem

Eine Schwierigkeit der Methode bestand teilweise darin, bei Abwesenheiten von Schüler:innen weiterhin sinnvolle Teams zu gewährleisten und diese einzuteilen, auch wenn die eigens für das Projekt angefertigte Namensliste im Klassenraum diesen Prozess etwas vereinfachte. Außerdem stellte es für einige Schüler:innen eine Herausforderung dar, sich für die vollen 20 Minuten auf den Text zu konzentrieren. Wenn ein Team die Leseübung ab und zu ein paar Minuten früher beendete, war dies jedoch nicht weiter schlimm, da es sich nicht erheblich auf den Fortschritt auswirkte. Ein wenig beschwerlich für die Schüler:innen war darüber hinaus, dass die Lektüre nach Beenden erneut begonnen und somit mehrmals gelesen werden musste. Hier war es wichtig, zum Verständnis auf das Ziel der verbesserten Leseflüssigkeit hinzuweisen. Spätestens, als die Teilnehmenden die Urkunden für ihre tollen Leistungen in den Händen hielten, war dieses Übel ohnehin nicht mehr von Bedeutung.

Es ließ sich feststellen, dass die Jahrgänge 5 und 6 der Methode mehr abgewinnen konnten und fokussierter bei der Sache waren als Jahrgang 7. Obwohl die Siebtklässler:innen ebenfalls Fortschritte zu verzeichnen hatten, waren bei den jüngeren Schüler:innen größere Steigerungen nachweisbar. Unklar sei, ob Kinder, die in den niedrigeren Klassenstufen mit der Methode aufwachsen, den Lautlesetandems eventuell als Jugendliche aufgeschlossener gegenüberstehen.

Materialien

Frau Salem stellt all ihre sorgfältig erarbeiteten und evaluierten Materialien auf der Website der Akademie für Leseförderung zur Verfügung: „Ich möchte, dass andere Schulen ebenfalls so tolle Ergebnisse erzielen.“ Andere Lehrkräfte sollten keine Angst haben, dass ein solches Projekt nicht gestemmt werden kann, zu zeitaufwendig ist und eventuell nicht die gewünschten Ergebnisse liefert. Frau Salem würde sich sehr freuen, wenn sich in Zukunft mehr Lehrkräfte die strukturierte Durchführung von Lautlesetandems zutrauen und damit ähnliche Erfolge verzeichnen.

01_Pilotierung Leseförderung

02_Leseförderung Ergebnisse Prätest

03a_Leseförderung Durchführung

03b Handout Leseförderung Durchführung 

04_Einteilung und Aushänge zur Leseförderung

05_Leseförderung Ergebnisse Posttest

06_Urkunden Lesechallenge