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Sommerlektüre für „Bahnenschwimmer:innen“ oder stürmische Tage am Meer

© DuMont

Wer im vergangenen Jahr lesend verfolgt hat, wie die junge Studentin Tilda in „22 Bahnen“ im Freibad ihr allabendliches Schwimmritual absolviert, kann sich in diesem Sommer nun bei „Windstärke 17“ mit Tildas kleiner Schwester Ida in die Brandung der Ostsee stürzen, um den Alltag hinter sich zu lassen. Im Leben beider Schwestern hat das Schwimmen eine große Bedeutung: Absolut stimmig also, dass sowohl das Erstlingswerk der Autorin Caroline Wahl als auch der Nachfolgeroman pünktlich zum Beginn der Freibadsaison erscheinen. Dennoch erwartet die Leser:innen hier keine seichte Sommerlektüre, sondern eine ernste und berührende Geschichte, die nachwirkt, aber trotzdem mit einer gewissen Leichtigkeit erzählt wird.

Hauptfigur des ersten Buches ist Tilda. Neben ihrem Mathematikstudium arbeitet sie als Kassiererin im Supermarkt und kümmert sich um ihre zehnjährige Schwester. Eine belastende Situation, da es keinen Vater gibt und die Mutter alkoholabhängig ist. Tildas Alltag ist streng durchgetaktet und lässt ihren Traum von einem Promotionsstudium in Berlin immer wieder in Vergessenheit geraten.
Das zweite Buch „Windstärke 17“ erzählt nun die Geschichte der kleinen Schwester Ida nach einem Zeitsprung von ca. 8 Jahren weiter. Nachdem sich ihre Mutter das Leben genommen hat, steht Ida vor der großen Herausforderung, den Tod der Mutter zu verarbeiten und ganz allein den Weg in ihr eigenes Leben zu finden, denn Tilda hat inzwischen eine eigene Familie und lebt in Hamburg. Mit einigen wahllos in den Koffer geworfenen Kleidern der Mutter, dem Kündigungsschreiben für die Wohnung und einem Rucksack voller Wut, Trauer und Schuldgefühle verlässt sie ihr Zuhause und macht sich ziellos auf den Weg. In der Hoffnung, ihrem Leben auf diese Weise zu entkommen, strandet Ida schließlich auf Rügen. Doch so abgelegen und einsam ihr diese Insel zunächst auch erscheint, wird sie sich sehr bald schmerzlich bewusst, dass es ihr nicht gelungen ist, die quälenden Bilder der Vergangenheit und ihre Albträume am Festland zurückzulassen. Zu ihrem Glück trifft sie auf der Insel aber auf Menschen, die ihr zur Seite stehen und sie stützen, ihr Leben aber kurze Zeit später erneut ins Wanken bringen.

Die Gemeinsamkeit beider Bücher sind die wunderbar beschriebenen Schwimmszenen, die die Autorin in einfachen Worten, aber mit ganz viel Einfühlungsvermögen und ihrer unverkennbaren Liebe zum (Meer-)Wasser entstehen lässt. Sie zeigen, dass das Schwimmen beiden Frauen auf unterschiedliche Weise bei der Lebensbewältigung hilft. Tilda taucht jeden Abend ganz bewusst ins Wasser ab, um den Alltag auszublenden. Im Wasser perlen Sorgen und Ängste von ihr ab und das gleichmäßige Ziehen von Bahnen hilft ihr, nicht aus ihrer Alltagsroutine zu fallen. Ida hingegen wirft sich waghalsig und mit aller Kraft den Ostseewellen entgegen. Sie kämpft im Wasser bis zur totalen Erschöpfung mit dem Sturm, sich selbst und dem Leben. Sie arbeitet sich an den Wogen aus Salzwasser ab, um Wut, Trauer und Schuldgefühle niederzukämpfen.

Absolute Leseempfehlung für alle Lese- und Wasserratten, (Nicht-)Schwimmer:innen und all diejenigen, die den Sommer gerne mit einem richtig guten Buch am Strand, Seeufer oder Beckenrand verbringen.
Beide Titel können als in sich abgeschlossene Geschichten getrennt voneinander gelesen werden.

Caroline Wahl: 22 Bahnen. Köln: DuMont, 2023.
Caroline Wahl: Windstärke 17. Köln: DuMont, 2024.