Beginnend mit einem Tagebucheintrag der 16-jährigen Hauptfigur Espe taucht man beim Lesen direkt ins Geschehen ein. Espe befindet sich in einer psychiatrischen Einrichtung und notiert die Ereignisse der letzten Wochen, um das Erlebte zu verarbeiten. Der Umzug der Familie – bestehend aus ihren Adoptiveltern und mehreren (Adoptiv-)Geschwistern – beginnt mit einem schweren Verkehrsunfall, der innere Bilder in Espe aufziehen lässt, die sie verunsichern. Als die Eltern nur wenige Monate später mitten in der Nacht und völlig unerwartet von der Polizei abgeführt werden, beginnt Espe, ihr ganzes bisheriges Leben zu hinterfragen. Je mehr ihr dabei bewusst wird, dass sie nicht die geringste Erinnerung an die Zeit vor ihrer Adoption hat, umso mehr wird sie emotional aus der Bahn geworfen. Während Sibel und Erik Simwe bisher absolute Vorzeigeeltern waren – sie Ärztin mit Schwerpunkt Epigenetik, er im Biotech-Bereich tätig –, befinden sie sich plötzlich wegen Unstimmigkeiten in Zusammenhang mit den Adoptionen in Untersuchungshaft und ihnen wird vorgeworfen, dass sie die vier Kinder für zweifelhafte Versuche im Bereich der Gehirnforschung missbraucht haben. Diese sind in einem Safe-House untergebracht und werden psychiatrisch betreut. Aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur können Leser:innen Espe auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, ihrer Biografie sowie Persönlichkeit begleiten und sich intensiv mit der Fragestellung auseinandersetzen, ob und inwieweit Erinnerungen an bedeutungsvolle Ereignisse in der frühen Kindheit einen Menschen prägen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Auswirkungen es hat, wenn solche Erinnerungen verdrängt oder bewusst ausgelöscht wurden. Ein spannendes Thema, das das Buch neben der Frage nach der Schuld der Eltern zu einem echten „Pageturner“ macht. Da die Auflösung erst auf den letzten Seiten erfolgt, bleibt die Lektüre spannend bis zur letzten Seite.
Neben den Tagebucheinträgen der Hauptfigur werden Schilderungen aus der Vergangenheit der vier Geschwister und kurze Einschübe zu inhaltlich passendenden wissenschaftlichen und spirituellen Themen ebenso geschickt in die Handlung eingeflochten wie mehrere Interviews der Journalistin, die über den Fall der Simwes berichtet. Die damit einhergehenden Orts- und Zeitsprünge sowie die Vielzahl der am Geschehen beteiligten Personen stellen selbst für geübte Leser:innen eine gewisse Herausforderung dar.
Insgesamt eine Mischung aus spannendem Thriller, einer Familiengeschichte mit dunklen Geheimnissen, die Schritt für Schritt gelüftet werden, und einer Prise Science-Fiction, was das Gerichtsurteil am Ende des Buches betrifft.
Tobias Elsässer: Mute. Wer bist du ohne Erinnerung? München: Hanser, 2024. Ab 14 Jahren.