Schule ohne Rassismus – ein Label, mit dem sich Schulen gern schmücken, so auch das Kant-Gymnasium, das Lenni und Serkan besuchen. Und tatsächlich scheint die Welt an der Schule in dem kleinen Ort in Ordnung. Der Schulleiter ist engagiert, die Theater-AG führt das letzte Mal ein Stück unter der Ägide von Lennis Lieblingslehrer auf und Serkans jüngster Bruder besucht nun auch die Schule. Ansonsten plagen die beiden Teenager vor allem Fragen rund um Mädchen und Sex. Die heile Welt bekommt Risse, als der neue Mitschüler Benjamin Serkan zur Theater-AG begleitet und Herrn Prasch deutlich in seine Schranken weist. Benjamin ist Afrodeutscher und spricht jedes Moment von Alltagsrassismus laut an. Empörte Gegenreden wie „Das habe ich so nicht gemeint.“ oder „Ich bin doch kein Rassist. Was willst du mir da unterstellen?“ demaskiert er als das, was sie sind: eine Täter-Opfer-Umkehr. Der Eklat an der Schule lässt nicht lange auf sich warten und Lenni befindet sich auf einmal zwischen allen Stühlen. Sind die Anklagen durch Benjamin, Serkan und Serkans Schwester Elif berechtigt oder sind sie völlig überzogene Wahrnehmungen der Realität? Wann ist es Zeit, den Mund aufzumachen, egal, wie schwer und unangenehm das ist? Je mehr Lenni gezwungen ist, sich mit den Vorwürfen und dem Verhalten aller auseinanderzusetzen, desto öfter fallen ihm unangenehme Wahrheiten auf.
Kathrin Schrockes Jugendbuch „Weiße Tränen“ ist ein wunderbar unbequemer Roman über die „Privilegien von Weißen“. Das ist er vor allem deswegen, weil die Leser:innen sich nur zu gern mit dem Ich-Erzähler identifizieren. Er ist ein sympathischer Jugendlicher, der niemandem etwas Böses will. Dass auch er unbewusst rassistische Stereotype reproduziert und durch Stillschweigen Rassismus begünstigt, wird im Laufe der Geschichte deutlich. Immer wieder hadert Lenni – und mit ihm die Leserschaft – mit den Vorwürfen und Argumenten Benjamins, Elifs und Serkans, um später zu erkennen, dass eben doch Unterschiede gemacht werden und Ausgrenzung das alltägliche Brot aller nicht Biodeutschen ist. Die Autorin hat sich, wie sie im Nachwort erklärt, intensiv mit Rassismus auseinandergesetzt und das merkt man dem Roman an. Er ist sachlich ausgesprochen fundiert und verweigert jegliche einfache (Auf-)Lösung. Letzteres gelingt Schrocke unter anderem, weil sie soweit wie möglich auf klischeehafte schwarz-weiß Zeichnungen der Figuren verzichtet. Hier ist weder der tumbe Skinhead zu finden noch der stereotype Nicht-Weiße, der bei jeder Gelegenheit Rassismus schreit. Dadurch erreicht sie auch, dass Leser:innen einen kritischen Blick auf ihr eigenes (rassistisches) Verhalten werfen und ihre Privilegien hinterfragen. Für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema gibt Kathrin Schrocke am Ende noch Literatur- und Podcast-Empfehlungen, aber auch im Zuge der Handlung werden Anregungen zur Eigenrecherche implizit gegeben. So wird zum Beispiel die Theatergruppe aufgefordert, die Geschichte rund um King Kong zu recherchieren, und Serkan verweigert Lenni mit dem Hinweis „Google is your friend“ eine Erklärung des Begriffs „white savior“.
Der Roman eignet sich sehr gut als Klassenlektüre ab Klasse 9, in die Schulbibliothek gehört er allemal. Idealerweise wird fächerübergreifend mit Politik und/oder Werte und Normen/Ethik zusammengearbeitet, denn „Weiße Tränen“ ist ein wichtiger Beitrag zur Demokratiebildung. Wer Anregungen für die Arbeit mit dem Roman im Unterricht braucht, kann auf das Unterrichtsmaterial von Miriam Rosenlehner zurückgreifen.
Kathrin Schrocke: Weiße Tränen. München: Mixtvision, 2023. Ab 13 Jahre.