„Das Leben ist an manchen Tagen halt nur im Vollrausch zu ertragen“, behauptet Dr. Korn und fasst damit treffend das Lebensmotto der Clique um den Ich-Erzähler Oscar zusammen. Neben den beiden gehören zur Gruppe noch Flinte, Oscars bester Freund, Julia und Bella. Die Jugendlichen betrinken sich regelmäßig, beginnen teilweise schon am Vormittag in der Schule und nicht selten endet ein Trinkgelage mit einem Filmriss. Da wacht Oscar schon mal mit einer Kopfverletzung auf, ohne zu wissen, was passiert ist. Lediglich Bella kann der Trinkerei nichts abgewinnen, bleibt oft nüchtern und muss dann eingreifen bzw. helfen, wenn die anderen jenseits von Gut und Böse sind. Einen einschneidenden Wendepunkt bringt der Tag, an dem Oscar seinen 16. Geburtstag nachfeiert. Als der Alkoholnebel sich wieder lichtet, hat Oscar eine Anzeige wegen Tierquälerei erhalten und wird von der Polizei befragt. Er wird zu Sozialstunden auf einem Gnadenhof verurteilt, muss eine Suchtberatung absolvieren und wird von Wolf, einem Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe, betreut. Und das erste Mal scheint Oscar zu erkennen, dass er mit Alkohol genauso viele Probleme hat, wenn nicht noch mehr.
Annette Mierswas Jugendroman „Unsere blauen Nächte. Wir trinken, bis die Welt erwacht“ handelt von jugendlichen Alkoholiker:innen. Sie kommen aus allen sozialen Schichten und trinken aus unterschiedlichen Gründen. Gemeinsam haben sie die Sucht, die ihnen vermeintlich Flucht vor der Realität bietet und dem Leben die Schärfe nimmt. Manch eine Situation erscheint zuerst lustig, fast wie ein Slapstick, um im nächsten Moment so zu eskalieren, dass Leser:innen das Kichern im Halse stecken bleibt. Der Roman begleitet zwei der Figuren auch bei der mühsamen und schweren Entwöhnung und dem Kampf um die Abstinenz: „Aber wenn man aufhört zu trinken, dann tun alle so, als ob man ‘ne fiese Krankheit hat und dem Tod geweiht wär‘“, erkennt Oscar gegen Ende des Romans und verweist damit auf die toxische Beziehung der Gesellschaft zu Alkohol. Gelungen zeigt Mierswa immer wieder auf, wie Alkoholkonsum verharmlost wird und wie Menschen, die eingreifen müssten, nichts tun.
Der Roman gehört ebenso in die Hände von Jugendlichen, die gerade das Feiern für sich entdecken, wie in die von Erwachsenen. Er bietet zahlreiche Denkanstöße, um das eigene Verhältnis zu Alkohol kritisch zu hinterfragen und schärft den Blick für den Umgang anderer mit der Volksdroge Nummer eins. Am Ende des Romans stehen sechs Tipps zum Umgang mit Suchtdruck und eine Sammlung von Infoseiten und Beratungsangeboten.
Mit einem guten Fingerspitzengefühl eignet sich der Roman als Klassenlektüre ab der 8. Klasse, der pädagogische Zeigefinger sollte aber Sendepause haben. In der Schulbibliothek sollte er allemal zu finden sein. Lesebefehl!
Annette Mierswa: „Unsere blauen Nächte. Wir trinken, bis die Welt erwacht“. Bindlach: Loewe Verlag, 2023. Ab 12 Jahren.