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Lieschen Radieschen: eine ungewöhnliche Märchenprinzessin

© Beltz

Dies verrät schon der erste Blick auf das Buchcover. Hier sieht man die Prinzessin nicht erwartungsgemäß im rosa Kleid mit weißer Spitze und Silberschuhen vor dem Märchenschloss stehen, sondern in radieschenroter Latzhose siegessicher auf einem Berg thronen. Keine Frage also, wer in dieser Geschichte die Hosen an und das Zeug dazu hat, die Gesetze der Märchenwelt in Frage und das Leben im Königsschloss komplett auf den Kopf zu stellen.

Den Namen Lieschen Radieschen trägt die Hauptfigur der Geschichte aufgrund einer ganz besonderen Eigenschaft. Sobald ihr etwas nicht in den Kram passt, bekommt sie einen roten Kopf, wird richtig wütend und fängt so laut an zu brüllen, dass den anderen Hören und Sehen vergeht. Lieschen Radieschen ist mutig und selbstbestimmt. Sie weiß genau was sie will: Königin werden! Und was sie nicht will: sich an königliche Regeln und Gepflogenheiten halten! Droht ihre hilflose Tante ihr mit den Worten: „So zornige Kinder holt der Lämmergeier“, dreht Lieschen Radieschen den Spieß um und schreit: „Nein, ich hol ihn!“ und lässt sich von dem Geier direkt ins Königsschloss fliegen, um die Prinzessin des kinderlosen Königspaars zu werden. Dort verlangt sie ein schwarzes Zorrokostüm, um Seeräuber und Landräuber zu jagen. Sie wehrt sich vehement gegen eine Entführung durch den königlichen Drachen, denn schließlich will sie diejenige sein, die den Prinzen befreit, anstatt sich vom Prinzen befreien und heiraten zu lassen. Während sich der König und die Königin große Sorgen machen, dass so aus Lieschen Radieschen nie und nimmer eine richtige Prinzessin werden kann, hat diese das Herz des Prinzen längst erobert. Er ist, ganz untypisch für einen Prinzen, ein schüchterner Kerl, der in schwierigen Situationen nicht rot vor Wut wird, sondern ängstlich zu stottern beginnt und sich deswegen freut, von Lieschen Radieschen befreit zu werden. Der Lämmergeier fliegt die beiden zur vorbestimmten Hochzeit ins Königsschloss, wo Lieschen ein letztes Mal in bekannter Weise die Augen zusammenkneift, den Mund zuklappt, einen roten Kopf kriegt und dem Prinzen zubrüllt: „Weißt du was, hier bleibe ich nicht. Ich bin gar keine richtige Prinzessin, weil ich nämlich Lieschen Radieschen bin.“

Dieses moderne und freche Märchen voller Sprachwitz ist eine wunderbare Ergänzung zu bekannten Märchen. Es weist viele typische Formulierungen und charakteristische Merkmale von klassischen Märchen auf, stellt gleichzeitig aber überholte Rollenbilder und althergebrachte Verhaltensweisen traditioneller Märchen in Frage. Das Buch ist vom Preis und Textumfang gut geeignet, um es im Anschluss an eine Unterrichtsreihe zu Märchen als Klassenlektüre für Kinder ab Ende Klasse 2 einzusetzen. Der Text ist in überschaubare Textabschnitte untergliedert, die durch viele kleine, teilweise ganzseitige farbige Illustrationen von Axel Scheffler ergänzt werden. Der Beltz-Verlag hat differenzierte Begleitmaterialien zum Einsatz der Lektüre im Unterricht herausgebracht. Zusätzlich hat der WDR eine kostenlose Hörspielversion der Geschichte veröffentlicht.

Martin Auer und Axel Scheffler: Lieschen Radieschen, die rebellische Prinzessin. Weinheim: Gulliver, 2024. Ab 8 Jahren.