Wie auch schon in ihrem Debüt „Nordstadt“ erzählt Annika Büsing ihre Geschichte vom Ende her. „Das Meer riecht genau richtig nach Meer. Nicht zu salzig und nicht zu ölig, nicht nach Fisch und nicht nach Lunge (…) Wo wir sitzen ist es trocken und warm. Es liegt Geborgenheit im Wind. (…) Wir haben fünf Tage zusammen verbracht. Ich kenne seinen Geruch am Morgen. Wir haben uns nur ein einziges Mal geküsst.“ So taucht man als Leser:in direkt ins Geschehen ein. Erst allmählich wird klar, dass es zwei Männer sind, die hier am Ziel ihrer Reise in Klütz am Strand sitzen. Ganz zufällig sind Chris und Koller, beide um die 30, sich einige Tage zuvor in einem Park in Leipzig begegnet. So besonders wie diese erste Begegnung der beiden war, so außergewöhnlich ist auch der Trip an die Ostseeküste, den sie spontan antreten: Klappriger Polo, kaum Reisegepäck und keinen Plan! Auch geografisch ziemlich orientierungslos lassen sie sich treiben und nehmen gerne den ein oder anderen Umweg in Kauf. Sie besuchen Kollers behinderte Schwester in Ludwigsburg, machen einen plötzlich dringend erforderlichen Abstecher ins überflutete Ahrtal und suchen den Garten von Kollers verstorbener Großmutter auf.
Auf ihrer Reise geraten sie nicht nur mehrmals in brenzlige Situationen, sondern auch heftig aneinander, da sie zwei Menschen sind, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Koller ist unabhängig, nach außen hin sehr selbstbewusst und emotional. Er nimmt das Leben so, wie es ist, und trifft Entscheidungen intuitiv aus dem Bauch heraus. Chris hingegen ist zurückhaltend, übermäßig reflektiert und kaum fähig, sich anderen gegenüber zu öffnen. Hinzu kommen die komplizierten Lebensgeschichten der beiden. Während Chris in letzter Sekunde eine Scheinheirat hat platzen lassen, erfährt Koller auf der Reise, dass er eine vierjährige Tochter hat. Tiefere Einblicke in das dunkle Vorleben der beiden Hauptfiguren geben kurze Lebensabrisse weiterer Familienangehöriger von Koller und Chris.
Wie auch schon in Nordstadt steckt Büsing Charaktere nicht in Schubladen, sondern zeigt, was in ihnen steckt. Sie legt Familiengeheimnisse offen auf den Tisch und hat keine Scheu davor, Dinge beim Namen zu nennen. Diese Klarheit schlägt sich auch in ihrem knappen Schreibstil nieder, der schnörkellos ist und - wie die Autorin mit einem Augenzwinkern betont - auf unnötige „Kaugummi-Adjektive“ verzichtet, dafür Leser:innen aber viel Raum bietet, eigenes in die Geschichte hineinzutransportieren. Dadurch regt der Kurzroman an vielen Stellen zum Nachdenken an und dies nicht nur über die Liebesgeschichte zwischen Koller und Chris, sondern auch über weitere aktuelle Fragestellungen wie z. B. den Klimawandel, die geschickt in die Geschichte eingeflochten werden.
Ein absolut lesenswertes Buch, das ein bisschen an den modernen Klassiker „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf erinnert.
Einen sehr sehenswerten Buchtrailer mit integriertem Interview der Autorin gibt es hier.
Annika Büsing: Koller. Göttingen: Steidl, 2023.