Was tun, wenn zu Hause ein kleiner Bruder „einzieht“ und plötzlich die Hauptrolle im Familienalltag einnimmt? Kurz entschlossen nimmt die kleine große Schwester die Sache selbst in die Hand: sehr selbstbewusst und mit einer außergewöhnlichen Idee.
Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive der Schwester erzählt, zeichnerisch dargestellt als zierliches Mädchen, in Rock, Ringelsocken und roter Schleife im Haar. Sie findet, der Bruder sehe aus wie ein Äffchen. „Der kleine Affe schrie den ganzen Tag. Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich.“ Umso unverständlicher ist es für das Mädchen, dass der verzückte Blick der Mutter nur auf ihm ruht. Die Illustrationen, die die knappen Textpassagen inhaltlich weitererzählen, zeigen, wie das Kind versucht, die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen. Man sieht es mit Keksen jonglieren und die Mutter am Rock zupfen, deren Blick abgewandt bleibt. Selbst auf die Drohung des Kindes, sich ein neues Zuhause zu suchen, reagiert die Mutter mit desinteressiertem Schulterzucken und einem gleichgültigen: „Ja, ja!“.
Also schnappt sich das Kind einen alten Bananenkarton, schreibt in seiner allerschönsten Handschrift „Kind zu verschenken“ darauf und bietet darin - welch geniale Idee - nicht etwa den verhassten Bruder zum Mitnehmen an, sondern steigt selbst hinein. So hofft das Mädchen unter den Passanten auf der Straße eine neue Familie zu finden und erträumt sich ein Zuhause mit großem Garten, Pool und dazu „einen gut aussehenden, klugen Vater und eine schöne, schlaue Mutter, die nur sie liebhaben“. Unterschiedlichste Erwachsene gehen vorbei, aber niemand nimmt das Mädchen mit. Stattdessen ziehen Hund, Katze und Schildkröte zu ihr in den Karton. Sie sind ebenfalls auf der Suche nach neuen Familien und finden unter den Passanten schnell neue Herrchen. So ist das Mädchen wieder allein, bis zum Schluss die Eltern wie zufällig vorbeikommen und sie als große Schwester für ihr Neugeborenes mitnehmen.
Durch den gelungenen Wechsel von kurzen Sätzen und aussagekräftigen Illustrationen gelingt es der Autorin, eine heitere und gleichzeitig ernste Geschichte zu erzählen, die den Schmerz, die Trauer und die Wut der Hauptfigur einfühlsam zum Ausdruck bringen. Die in schwarz-weiß-rot gehaltenen Illustrationen sind minimalistisch und die Figuren mit einfachen Linien dargestellt, wodurch auf die Gestik und Mimik fokussiert wird. Dies erleichtert es jungen Leser:innen, sich in die Gefühlswelt der Hauptfigur hineinzuversetzen Die sparsam verwendeten Worte bieten viel Freiraum, um beim gemeinsamen (Vor-)Lesen und Betrachten der Bilder über (Eifersuchts-)Gefühle ins Gespräch zu kommen. Dies ist umso wichtiger, als dass solche Gefühle von Erwachsenen häufig ignoriert oder nicht ernst genommen werden, wie sich am Beispiel der Mutter in der Erzählung zeigt. Insgesamt nehmen die comicähnlichen Illustrationen deutlich mehr Raum als der Text ein. Dies kommt den Lesefähigkeiten von Leseanfänger:innen sehr entgegen und bietet viele Möglichkeiten für kreativ-gestalterische Zugriffsweisen.
Etwas ernüchternd, dafür aber durchaus realitätsnah ist das Ende der Geschichte. Es zeigt auf kindgemäße Weise, dass „Weglaufen“ keine Lösung ist, dass man sich als Familie arrangieren und miteinander ins Gespräch kommen muss.
„Kind zu verschenken“ ist in Japan seit 30 Jahren ein Klassiker der Erstleseliteratur und auch in Deutschland als (Klassen-)Lektüre ab der 2. Klasse zu empfehlen.
Hiroshi Ito: Kind zu verschenken. Frankfurt am Main: Moritz, 2023. Ab 6 Jahren.