Wer bin ich und was sehen die anderen in mir? Das ist die zentrale Frage des aktuellen Buchs der preisgekrönten Autorin Tania Witte, die diesmal einen Jungen in den Mittelpunkt ihres Romans stellt. Das titelgebende „Einfach nur Paul“ kann hier nicht die Antwort sein, denn „es gab in der Tat zwei Pauls: einen in (Pauls) Kopf und einen anderen, den der Rest der Welt sehen konnte. Sie hatten wenig miteinander zu tun.“ Und als ob diese innere Zerrissenheit nicht schon Herausforderung genug ist, läuft auch sonst in Pauls Leben so einiges schief. Er ist Frontman einer Band, die nicht wirklich sein Ding ist, da er eigentlich lieber elektronische Musik mag und heimlich davon träumt, ein erfolgreicher DJ zu werden. Außerdem ist er seit Jahren in Amira verliebt, Gründerin der Band, die er sogar schon einmal geküsst hat, die seine Gefühle – wie er weiß – jedoch nicht erwidert. Da er trotzdem gerne mit ihr zusammen ist, muss er also ständig darauf bedacht sein, seine Gefühle für Amira im Griff zu behalten. Auch Pauls Verhältnis zu seinem Vater ist schwierig, so dass jedes Gespräch mit ihm in einer Brüllorgie endet.
So richtig aus den Fugen gerät Pauls Leben allerdings, als seine jüngere Schwester Keks bei einem Blutgruppentest für den Biologieunterricht herausfindet, dass Paul nicht das leibliche Kind seiner Eltern sein kann: ein Schock, der Pauls Leben komplett auf den Kopf stellt! Er erfährt schließlich, dass sich seine biologische Mutter nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht und ihn bei seinem Vater zurückgelassen hat. Paul ist völlig fassungslos darüber, wie seine Mutter so etwas tun konnte und wie seine Eltern ihm das jahrelang hatten verschweigen können, und geht auf Distanz. Auf die anfängliche Fassungslosigkeit folgt Unverständnis, dann Wut und schließlich die Sehnsucht, seine leibliche Mutter zu finden und kennenzulernen. Es gelingt ihm tatsächlich, sie ausfindig zu machen. Doch was er erfährt, als er ihr schließlich gegenübersteht, lässt sich nur langsam und Stück für Stück begreifen. Was Paul hingegen direkt begreift, ist, dass es sein Leben noch komplizierter macht, als er sich das je hätte vorstellen können.
Trotz der ernsten Thematik ist der Roman locker, leicht und sehr authentisch geschrieben. Der Sprachstil ist modern und an die Sprache Jugendlicher angepasst ohne aufdringlich zu sein. Da die Geschichte aus Pauls Perspektive berichtet wird, kann man sich als Leser:in gut in seine Person hineinversetzen. Paul steckt voller geheimer Sehnsüchte und jugendlicher Energie. Immer wieder verheddert er sich in seinen komplizierten Gedankengängen, aus denen ihn Amira mit den Worten „Du denkst zu viel und teilst zu wenig“ und einem frotzelnden Boxen gegen den Oberarm herausholt.
Unterbrochen werden Pauls Erzählungen durch Briefe seiner Mutter, die sie über die Jahre hinweg an ihren Sohn geschrieben hat. Sie werden nach jedem Kapitel, abgesetzt durch ein anderes Schriftbild, in den Text eingefügt, wobei sich der Leserschaft der Zusammenhang zwischen den Briefen und den Schilderungen Pauls erst im Laufe der Geschichte erschließt. In der toll vertonten Hörbuch-Version des Romans werden diese gefühlvollen Briefe von Isabel Abedi gelesen.
Mit ihrem aktuellem Werk ist Tania Witte erneut ein berührender und tiefsinniger Roman über die Suche nach der eigenen Identität und dem richtigen Platz in der Welt gelungen, der Erwachsenen und Jugendlichen ab 14 Jahren zu empfehlen ist.
Tania Witte: Einfach nur Paul. Würzburg: Arena, 2022. Ab 14 Jahren.